Von einer Krise in die nächste
Gastbeitrag von Michela Ivano, Director Employer Telling & Content für die eTo Personalmarketing
Ist die Abwanderung hoffnungslos irreversibel? Wir haben nachgefragt. Vier Fachkräfte. Vier Abwanderungen, die sich potenzieren. Vier Geschichten, die Ihnen helfen können, die richtigen Schritte zu gehen, um die Fachkräfte für sich zu gewinnen, die Sie sich wünschen.
Vor rund 15 Monaten mussten Hotel- und Gastronomiebetriebe ihre Türen erstmals schließen. Gerade kehrt wieder so etwas wie Normalität zurück, wenn man es denn so nennen mag. Denn von Normalität kann nicht wirklich die Rede sein. Zu tief steckt die Angst vor einer vierten Welle. Selbst ohne die vierte Welle ist es derzeit alles andere als einfach für Hoteliers und Gastronomen. Denn der altbekannte Feind steht wieder vor der Tür: Der Fachkräftemangel. Heute präsentiert er sich düsterer als je zuvor. Er verschont niemanden. Auch nicht die „Guten“.
Wir haben in mit vielen Hoteldirektoren und Mitarbeitenden aus dem Gastgewerbe gesprochen. Neben all den erschütternden Herausforderungen, denen sich die Unternehmen im vergangenen Jahr stellen mussten, um auch nach dem Stillstand schlichtweg noch da zu sein, treibt sie nach wie vor die Personalkrise um. Einige von ihnen waren vorbildlich in der Mitarbeiterführung. Sie haben alles getan. Und dennoch. Zur Wiedereröffnung standen und stehen sie unterbesetzt da. Selbst die Mitarbeitenden, die aus voller Überzeugung noch da sind, geben zu, dass sie natürlich über eine Umorientierung nachgedacht haben – und das teilweise noch immer tun. Zu groß ist die Angst vor Unsicherheit und Perspektivlosigkeit.
Laut Angaben des DEHOGA verlor das Gastgewerbe im vergangenen Jahr 325.000 Mitarbeitende. Einer der sichersten Arbeitgeber wurde am 15.03.2020 offiziell zu einem der unsichersten Arbeitgeber und in der Außenwahrnehmung alles andere als krisenfest.
Wohin hat es die Fachkräfte verschlagen?
In den vergangenen Monaten gab es immer wieder teure und laut inszenierte Kampagnen anderer Branchen, die es ganz offensiv auf Hotel- und Gastromitarbeitende abgesehen haben. Mit Social Media Kampagnen, Plakaten und sogar eigens programmierten Webseiten scheuten weder Supermärkte noch Verkehrsbetriebe -um nur einige Beispiele zu nennen- Kosten und Mühen.
Mit Erfolg?
Jein. Unternehmen, die trotz allem das Thema Mitarbeiterbindung nicht aus den Augen verloren haben und es sich (finanziell) leisten konnten ihre Mitarbeitenden zu halten, trifft es wohl in weniger starkem Ausmaß. Andere wiederum mussten sich damit abfinden, gute Fachkräfte an Penny, Lidl und Co. zu verlieren.
Sind diese Fachkräfte für immer verloren? Diese Frage lässt sich nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Doch festzuhalten ist, dass die Menschen, die für die Hotellerie und die Gastronomie brennen und ihrem Job mit Leidenschaft nachgegangen sind, langfristig nicht zwingend glücklich werden in anderen Branchen. Die Not mag sie weggetrieben haben, doch jedem dürfte bewusst sein, dass jemand aus der Branche seine intrinsische Motivation nicht primär aus finanziellen Aspekten zieht. Schließlich waren Hotellerie und Gastronomie noch nie die Branchen, die man anstrebt, wenn man reich werden möchte.
Wir haben mit vier Fachkräften gesprochen, die sich in der Krise gezwungen sahen, ihrer Branche den Rücken zu kehren. Sie erzählen von ihren Beweggründen und ob, unter welchen Umständen und warum sie zurückkehren möchten.
Philipp S., gelernter Hotelkaufmann – Von der Hotellerie in den Einzelhandel
An einem sonnigen Dienstagvormittag haben wir uns zu einem Zoom-Interview verabredet. Locker im Hoody und mit einem strahlenden, grundoptimistischen Lächeln sitzt Philipp S. mir „gegenüber“. Ich möchte erfahren, wie es ihm in der Krise ergangen ist und was sich im Zuge dessen bei ihm verändert hat.
Im März 2020 war Philipp S. noch als Hoteldirektor bei einem alternativen Hotelkonzept angestellt. Er war zufrieden. „Es ist eines dieser lebendigen Hotelkonzepte, die nicht so klassisch starr sind. Hier ist der Mensch wertvoll und die Hierarchien sind wirklich flach. Wir hatten ein tolles, diverses Team, das sich super ergänzt hat. Jeder konnte sich einbringen und aktiv mitgestalten.“ Dann kam das Virus und mit ihm die Kurzarbeit und die zunehmende Perspektivlosigkeit. „Die Inhaber sind sehr gut mit der Situation umgegangen und haben stets transparent mit allen Mitarbeitern kommuniziert. Es war die durch Kurzarbeit verschlechterte wirtschaftliche Situation, vor allem aber diese Perspektivlosigkeit, die mir sehr zu schaffen gemacht hat.“
Mit dem Einverständnis seines Arbeitgebers hat er im Juni zunächst einen Minijob bei einem Lebensmitteldiscounter angefangen, um sein Kurzarbeitergeld aufzustocken. Regale einräumen statt Gäste begrüßen. Parallel habe er sich immer wieder im Freundes- und Bekanntenkreis umgehört und „Vitamin B angezapft“ wie er sagt. Durch diese Beziehungen ergab es sich schließlich, dass er bei demselben Lebensmitteldiscounter als Verkaufsleiter einstieg und das Hotel hinter sich ließ.
Alles besser?
Die Umstellung war für Philipp S. kein Problem, da die „Grundfähigkeiten deckungsgleich“ sind, wenn auch bei der konzeptionellen Einarbeitung viel Eigeninitiative gefragt war. Er erzählt, wie wichtig es ihm sei, sich im Leben weiterzuentwickeln und neue Wege zu gehen. Neue Eindrücke und Erfahrungen habe ihm der Job bei der Leitung von sechs Märkten auf jeden Fall beschert. Mehr Gehalt verdiene er jetzt auch. Das Miteinander im Team sei trotz der Umstände gut und es mache ihm Spaß. Es gibt jedoch ein großes ABER.
„Das Verhältnis Gehalt zu Arbeitseinsatz passt einfach nicht. Ja, ich verdiene mehr, aber ich arbeite auch wesentlich mehr. Eine 60-70 Stunden Woche ist in meinem aktuellen Beschäftigungsverhältnis „normal“. Das war im Hotel schon ausgewogener. Die Work-Life-Balance war um einiges besser“, erzählt Philipp S.
Ist das nicht bemerkenswert? Diese sagenumwobene Work-Life-Balance empfand er in der Hotellerie als stimmiger. Ein Attribut mit dem sich die Hotellerie in der Vergangenheit noch nie wirklich schmücken konnte. Zumindest so lange nicht, bis man in einer anderen Branche die Erfahrung macht, dass es auch „schlimmer“ geht.
Kommt die Hotellerie je wieder in Frage?
„Mit dem aktuellen Work Load ist es für mich eher unattraktiv und langfristig auch ungesund. Meine Freizeit kommt derzeit nicht nur zu kurz, sondern fällt komplett weg. Ich halte jetzt erstmal wieder Augen und Ohren offen. Eine Rückkehr zur Hotellerie wäre auf jeden Fall eine Option, aber auch andere Branchen – solange es mit Weiterentwicklung verbunden ist. Ich brauche einfach wieder etwas, das mir wirklich Freude bereit, ein emotionales Produkt, in das ich meine Leidenschaft stecken kann.“
Marisa V., gelernte Hotelfachfrau mit Zusatzqualifikation Hotelmanagement – Von der Hotellerie in die Pharmabranche
Marisa V. ist eine Frau vom Fach und wie sie im Buche steht. Aufgeschlossen, smart, sympathisch und selbstreflektiert. Von ihrem Handy und ihrem neuen Arbeitsplatz aus schaltet sie sich zum Gespräch. Bis zur Pandemie war Marisa V. im Sales bei einem 5* Grand Hotel mit drei Hotels eingesetzt. Sie schwärmt von ihren Tätigkeiten, der Abwechslung, dem Kontakt zu so vielen unterschiedlichen Menschen, dem Büro-Alltag, der keiner war und der fehlenden Routine. Alles war wunderbar: sie hatte einen Job, der sie erfüllt hat und hatte sich gerade ein Haus gekauft. Doch wie bei so vielen anderen Menschen auch, brach ihre heile Welt am 14. März 2020 von einem Tag auf den nächsten zusammen. Kurzarbeit, Absagen, Stornierungen und „nichts (zu) tun“ waren plötzlich neuer Alltag.
Sechs Monate nach Beginn des ersten Lockdowns hat sie gewartet und gehofft – bis sie es nicht mehr aushielt. Sie beschloss der Branche den Rücken zu kehren.
Keine Sinnhaftigkeit
„Was mir am meisten zu schaffen gemacht hat war die Unsicherheit. Außerdem habe ich in dieser Zeit den Spaß am Sales verloren. Es gab keine Erfolgserlebnisse mehr, kein Zufriedenheitsgefühl nach einem Arbeitstag, keine Aufgaben und damit keinen Sinn mehr. Diese Perspektivlosigkeit war auf Dauer nichts mehr für mich.“
Über einen Kontakt ihres vorherigen Arbeitgebers kam sie zur Medizintechnik in die Pharmabranche. Hier arbeitet sie jetzt im Office Management und kann all ihre in der Hotellerie kultivierten Skills, wie Organisationstalent und Kundenservice einsetzen. Auf Aspekte und Aufgaben, die ihr aus der Hotellerie bekannt sind, habe sie bei der Umorientierung besonders geachtet, denn ihr Herz hänge nach wie vor an „ihrer“ Branche.
„Der neue Job ist sehr abwechslungsreich. Nach der trägen Kurzarbeitszeit war es erstmal anstrengend wieder voll einzusteigen und sich auch noch in ein neues Gebiet einzuarbeiten, aber ich habe mich auch sehr über diese Herausforderung gefreut. Die Tage haben endlich wieder einen Sinn und ich habe endlich wieder Sicherheit.“
Kommt die Hotellerie je wieder in Frage?
Marisa V. strahlt und scheint durchaus glücklich mit ihrer Entscheidung und ihrem Wechsel in die Pharmaindustrie. Sie bereue nichts versichert sie. Verwunderlich ist das nicht, denn wolle man vergleichen, freue sie sich heute über flexiblere Arbeitszeiten und -konzepte, mehr Freiheiten, mehr Urlaub und natürlich über wesentlich mehr Gehalt.
„Ganz ehrlich, es geht mir nicht um das Geld. Für Sicherheit und Perspektive wäre ich auch in einen gleichbezahlten Job gewechselt.“
Sie schließe nicht aus, irgendwann vielleicht wieder in die Branche zurückzukehren, aber „in den nächsten Jahren auf keinen Fall“. Sie befürchte die Hotellerie, speziell ihr ehemaliges Grand Hotel werde nicht mehr so sein wie früher. Es werde sicher Einsparungsmaßnahmen an allen Fronten geben, bei Kolleg:innen, dem Angebot und das bei voraussichtlich höheren Preisen, die sie nicht vertreten könne.
Ihr Rat an die Branche: Ich finde man sollte sich voll und ganz um die Weiterbildung seiner Mitarbeiter kümmern, damit diese frisch geschult und motiviert an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können.“
Mitarbeitende werben Mitarbeitende – ab.
Ihren aktuellen Arbeitgeber hat sie auch einer ehemaligen Kollegin aus dem Hotel empfohlen. Sie wird demnächst ebenfalls einen Neuanfang in der Pharmabranche starten.
Christian B., gelernter Hotelfachmann – Von der Hotellerie zur Juristerei
Christian B. befindet sich gerade auf einem Fernlehrgang als wir erstmalig Kontakt haben. Am Nachmittag „treffen“ wir uns via Zoom zum Gespräch. Seine Ausbildung zum Hotelfachmann hat er in Kassel gemacht und ist dann in ein Luxusresort auf Sylt gewechselt – an die Rezeption. Hier hat er auch seine Frau kennengelernt, die ebenfalls im Resort tätig war. Beide haben schon vor der Pandemie gemeinsam beschlossen die Hotellerie zu verlassen.
„Wir haben Zukunftspläne geschmiedet. Haus, Kinder und alles was dazu gehört. Die Arbeitszeiten und die Verdienstmöglichkeiten im Hotel haben sich nicht mit unseren Zukunftsplänen gedeckt. Die fehlende Wertschätzung war auch ein Aspekt“, erzählt er.
Heute leben sie in Flensburg und ziehen bald nach Kiel. Frau B. macht hier eine Ausbildung im IT-Bereich und Christian B. startet seine neue Karriere als Büromanager in einer Anwaltskanzlei. In die Hotellerie zurückkehren möchte er nicht, er schließe es für die Zukunft aber nicht komplett aus: „Wenn, dann nur in einer Führungsposition als Rooms Division Manager zum Beispiel, wenn das Gehalt passt.“
In diesen Zeiten unterhalten sie sich noch oft über die Hotellerie und die Gastronomie, bei der sie damals zumindest die Sicherheit, auch die Krisensicherheit, zuversichtlich gestimmt habe. Heute seien sie „froh den Absprung rechtzeitig geschafft zu haben“.
Maria F., gelernte Hotelfachfrau – Von der Hotellerie in den öffentlichen Dienst
Mit Maria F. sollte es ursprünglich ein kurzes Telefonat werden. Am Ende haben wir uns eine Stunde lang unterhalten. Denn Maria F. hat es von einer leitenden HR-Funktion in der Sternehotellerie in den öffentlichen Dienst verschlagen – zur Agentur für Arbeit. So hatte sie nicht „nur“ ihre persönliche Geschichte zu erzählen, sondern auch die all derjenigen, die im Zuge der Krise ihre Jobs im Gastgewerbe verloren haben und zu „Kunden“ beim Arbeitsamt wurden.
Maria F. berichtete von nun arbeitslosen Fachkräften, die sich von ihren Arbeitgebern verlassen und alleingelassen gefühlt haben, von Fachkräften, die man noch um das Kurzarbeitergeld prellen wollte, aber auch von Fachkräften, die die Sinnhaftigkeit ihrer ehemaligen Tätigkeit inzwischen vollkommen in Frage stellen.
„Überraschend viele Leute aus dem Gastgewerbe, die jetzt arbeitslos sind, interessieren sich für eine Umschulung in der Pflege.“
Grob ließen sie sich laut Maria F. in drei Gruppen einteilen: die einen warten darauf, dass ihre alten Betriebe wieder öffnen und sie wieder einstellen, die anderen orientieren sich mit einer Umschulung im Wunschbereich komplett um und wiederum andere bewerben sich in anderen Branchen als Quereinsteiger. Quereinsteiger, die mehr als willkommen sind. Das ist nicht neu, war es doch schon vor der Pandemie so. Der Kampf um die beliebten Fachkräfte aus dem Gastgewerbe stellt sich heute allerdings wesentlich offensiver dar als noch vor einigen Jahren. Lesen Sie dazu auch diesen Beitrag.
Maria F. selbst ist von einer leitenden Funktion in eine sachbearbeitende Funktion gewechselt, in der „stumpfes Abarbeiten nach Vorgabenkatalog“ an der Tagesordnung ist. Nicht nur das ist absolut konträr zu dem was sie aus der Hotellerie gewohnt war, sondern auch das Arbeitsklima und die Zusammenarbeit im Team. Sie habe sich noch nie so unwillkommen gefühlt, es sei durch und durch unangenehm. Von Teamspirit sei im Amt nicht viel zu spüren – im Gegenteil. Ihre Sehnsucht nach ihrer geliebten Gastgeberbranche ist durch das Telefon greifbar. Ihr Fazit:
„Auch wenn dieses *We are family* immer belächelt wurde. Ich weiß jetzt, dass es wirklich so ist. In der Hotellerie ist das Team eine Familie. Dieses Gefühl, die Menschlichkeit und diesen Team Spirit gibt es woanders so nicht. Ich vermisse die Hotellerie unsagbar.“
Auf die Frage, ob sie in das Gastgewerbe zurückkehren würde, zögert sie keine Sekunde: „Auf jeden Fall!“
Gute Gründe für das Gastgewerbe als Arbeitsplatz und für Sie als Arbeitgeber
Diese Geschichten veranschaulichen meiner Ansicht nach sehr genau, worum es Fachkräften aus dem Gastgewerbe geht. Sie zeigen auch, dass es für Arbeitgeber keinen Grund gibt verlorene Mitarbeitende aufzugeben und abzuhaken. Für diejenigen, die abgewandert sind, gilt dasselbe wie für gewünschte Quereinsteiger und den Nachwuchs, der jetzt so dringend benötigt wird: Sie alle wollen überzeugt werden. Dafür bedarf es guter Gründe. Guter Gründe, die Sie ihnen unaufgefordert präsentieren sollten.
„Ich brauche schon wirklich gute Gründe, bevor ich zurück in die Hotellerie gehe.“ – Marisa V.
Warum sollte jemand für Sie arbeiten? Was macht Sie als attraktiven Arbeitgeber aus? Kennen Sie Ihr Why und kommunizieren Sie es auf allen verfügbaren Plattformen. Vergessen Sie dabei bitte nicht die gute alte Devise: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Über die Autorin: Michela Ivano ist als Director Employer Telling & Content für die eTo Personalmarketing GmbH tätig, die auch Veranstalter der Nacht der Hotellerie ist. Davor war sie über 15 Jahre lang in der Kreuzfahrt, der internationalen Hotellerie & Gastronomie und im Tourismus in operativen als auch in strategischen Positionen beschäftigt.